Die Praxis eines Arbeitgebers, die darin besteht, einen Entgeltzuschlag nur an behinderte Arbeitnehmer zu zahlen, die eine Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung nach einem Datum eingereicht haben, das der Arbeitgeber selbst festgesetzt hat, kann eine unmittelbare oder eine mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung darstellen.
VL war bei einem Krankenhaus in Krakau (Polen) von Oktober 2011 bis September 2016 beschäftigt. Im Dezember 2011 erhielt sie eine Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung. Diese Bescheinigung übermittelte sie ihrem Arbeitgeber im selben Monat. Um die Summe der Beiträge des Krankenhauses an den Staatsfonds für die Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen zu verringern, entschied der Direktor dieses Krankenhauses nach einem Treffen mit dem Personal, das im zweiten Halbjahr 2013 stattfand, den Arbeitnehmern, die ihm nach diesem Treffen eine Bescheinigung über die Anerkennung ihrer Behinderung einreichten, einen Zuschlag zum monatlichen Arbeitsentgelt zu gewähren. Auf der Grundlage dieser Entscheidung wurde der Entgeltzuschlag dreizehn Arbeitnehmern gewährt, die ihre Bescheinigung nach diesem Treffen einreichten, während sechzehn andere Arbeitnehmer, darunter VL, die ihre Bescheinigung schon vorher übermittelt hatten, nicht in den Genuss des Zuschlags kamen.
Da die von VL gegen ihren Arbeitgeber erhobene Klage in der ersten Instanz abgewiesen wurde, legte sie Berufung beim vorlegenden Gericht, dem Sąd Okręgowy w Krakowie (Bezirksgericht Krakau, Polen), ein. Sie ist der Auffassung, dass die Praxis eines Arbeitgebers, die dazu führe, dass von der Gewährung eines Zuschlags zum Arbeitsentgelt für behinderte Arbeitnehmer bestimmte behinderte Arbeitnehmer ausgeschlossen würden, und die allein darauf abziele, die Beiträge des Krankenhauses zu verringern, indem für behinderte Arbeitnehmer, die noch keine Bescheinigung über eine Behinderung eingereicht hätten, ein Anreiz gesetzt werde, dies zu tun, gegen das in der Richtlinie 2000/781 aufgestellte Verbot jeder unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung wegen einer Behinderung verstoße.
Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 2 der Richtlinie 2000/78 und insbesondere hinsichtlich der Frage, ob eine Diskriminierung im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, wenn ein Arbeitgeber eine Unterscheidung innerhalb ein und derselben Gruppe von Arbeitnehmern mit dem gleichen geschützten Merkmal trifft. Es hat daher beschlossen, eine Frage zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof zu richten. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Praxis eines Arbeitgebers, die darin besteht, ab einem von ihm gewählten Datum von der Gewährung eines Zuschlags zum Arbeitsentgelt, der aufgrund der Einreichung einer Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung an behinderte Arbeitnehmer gezahlt wird, diejenigen Arbeitnehmer auszuschließen, die ihre Bescheinigung vor diesem Datum eingereicht haben, eine Diskriminierung im Sinne der genannten Bestimmung darstellen kann.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der als Große Kammer entscheidende Gerichtshof prüft in einem ersten Schritt, ob eine Ungleichbehandlung, die innerhalb einer Gruppe von an einer Behinderung leidenden Personen vorliegt, unter den „Begriff ‘Diskriminierung’“ in Art. 2 der Richtlinie 2000/78 fallen kann. Insoweit stellt der Gerichtshof fest, dass der Wortlaut dieses Artikels nicht den Schluss zulässt, dass mit Blick auf diesen geschützten Grund das von der Richtlinie vorgesehene Diskriminierungsverbot allein auf Ungleichbehandlungen beschränkt wäre, die zwischen Personen, die an einer Behinderung leiden, und Personen, die nicht an einer Behinderung leiden, bestehen. Der Kontext, in dem dieser Artikel steht, enthält gleichfalls keine solche Beschränkung. Was das von der Richtlinie verfolgte Ziel angeht, so spricht dieses für eine Auslegung, wonach die Richtlinie den Kreis von Personen, gegenüber denen ein Vergleich vorgenommen werden kann, um eine Diskriminierung wegen einer Behinderung festzustellen, nicht auf die Personen beschränkt, die keine Behinderung haben. Der Gerichtshof stellt des Weiteren fest, dass Fälle einer Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne der Richtlinie 2000/78 zwar im Allgemeinen die sind, in denen Personen mit einer Behinderung eine weniger günstige Behandlung oder eine besondere Benachteiligung gegenüber Personen ohne eine Behinderung erfahren, dass der durch die Richtlinie verliehene Schutz jedoch verkürzt wäre, wenn davon ausgegangen werden müsste, dass ein Fall, in dem eine solche Diskriminierung innerhalb einer Gruppe von Personen vorliegt, die alle an einer Behinderung leiden, definitionsgemäß dem von ihr aufgestellten Diskriminierungsverbot nur deshalb entzogen wäre, weil die Ungleichbehandlung zwischen Personen mit Behinderungen besteht. Somit soll der in der Richtlinie 2000/78 verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung einen Arbeitnehmer, der eine Behinderung im Sinne der Richtlinie aufweist, gegen jede Diskriminierung wegen dieser Behinderung nicht nur gegenüber Arbeitnehmern, die keine Behinderung aufweisen, sondern auch gegenüber Arbeitnehmern, die eine Behinderung aufweisen, schützen.
In einem zweiten Schritt prüft der Gerichtshof, ob die streitige Praxis eine von der Richtlinie 2000/78 verbotene Diskriminierung wegen einer Behinderung darstellen kann. Hierzu stellt er erstens fest, dass, wenn ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation weniger günstig behandelt, als ein anderer seiner Arbeitnehmer behandelt wird, wurde oder werden würde, und wenn sich im Hinblick auf alle für den betreffenden Fall erheblichen Umstände erweist, dass diese ungünstige Behandlung wegen einer Behinderung des erstgenannten Arbeitnehmers erfolgt, da sie auf einem untrennbar mit der Behinderung verbundenen Kriterium beruht, diese Behandlung gegen das in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 aufgestellte Verbot einer unmittelbaren Diskriminierung verstößt. Da die streitige Praxis der Ursprung einer Ungleichbehandlung zwischen zwei Kategorien von behinderten Arbeitnehmern in einer vergleichbaren Situation ist, ist es somit Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die vom Arbeitgeber für die Gewährung des in Rede stehenden Entgeltzuschlags aufgestellte zeitliche Bedingung, nämlich die Übermittlung der Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung nach dem vom Arbeitgeber gewählten Datum, ein Kriterium darstellt, das untrennbar mit der Behinderung der Arbeitnehmer verbunden ist, denen dieser Zuschlag versagt wurde. Der Gerichtshof weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Arbeitgeber den behinderten Arbeitnehmern, die ihre Bescheinigung bereits vor diesem Datum übermittelt hatten, offenbar nicht erlaubt hat, die Bescheinigung erneut einzureichen oder eine neue vorzulegen, so dass diese Praxis es einer klar zu identifizierenden Gruppe, die aus allen behinderten Arbeitnehmern besteht, deren Zustand einer Behinderung dem Arbeitgeber bei Einführung dieser Praxis notwendigerweise bekannt war, endgültig unmöglich gemacht haben könnte, diese zeitliche Bedingung zu erfüllen. Diese Arbeitnehmer hatten nämlich diesen Zustand durch die Übermittlung einer Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung vorher förmlich mitgeteilt. Daher kann eine solche Praxis eine unmittelbare Diskriminierung darstellen, wenn sie geeignet ist, einer klar zu identifizierenden Gruppe von Arbeitnehmern, die sich aus allen behinderten Arbeitnehmern zusammensetzt, deren Zustand einer Behinderung dem Arbeitgeber bei der Einführung dieser Praxis notwendigerweise bekannt war, die Erfüllung dieser zeitlichen Bedingung endgültig unmöglich zu machen.
Zweitens unterstreicht der Gerichtshof, dass das vorlegende Gericht, wenn es umgekehrt zu dem Schluss gelangen sollte, dass die fragliche Ungleichbehandlung Folge einer dem Anschein nach neutralen Praxis ist, für die Feststellung, ob diese Praxis eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellt, zu prüfen haben wird, ob diese Praxis dazu führt, dass Personen mit bestimmten Behinderungen gegenüber Personen mit anderen Behinderungen besonders benachteiligt werden, und insbesondere ob sie dazu führt, dass bestimmte behinderte Arbeitnehmer aufgrund der besonderen Art ihrer Behinderung, namentlich der Auffälligkeit der Behinderung oder des Umstands, dass für die betreffende Behinderung angemessene Vorkehrungen erforderlich sind, besonders benachteiligt werden. Denn nach Auffassung des Gerichtshofs könnte angenommen werden, dass Arbeitnehmer, die eine solche Behinderung haben, verpflichtet waren, vor dem von dem betreffenden Krankenhaus gewählten Datum diesem ihren Gesundheitszustand durch die Übermittlung einer Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung förmlich mitzuteilen, während andere Arbeitnehmer mit Behinderungen einer anderen Art – beispielsweise, weil diese Behinderungen weniger schwer sind oder nicht unmittelbar solche Vorkehrungen erforderlich machen – die Wahl hatten, ob sie eine entsprechende Mitteilung machen oder nicht. Mithin kann eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, auch wenn sie dem Anschein nach neutral ist, eine mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung darstellen, wenn sie zu einer besonderen Benachteiligung behinderter Arbeitnehmer in Abhängigkeit von der Art ihrer Behinderung führt und diese Praxis weder durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist, noch die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.
1 Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16)
Quelle: EuGH, Pressemitteilung vom 26.01.2021 zum Urteil C-16/19 vom 26.01.2021